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Die in der Dunkelziffer impft man nicht

Frankfurter Allgemeine : Von Gerd Antes

23. Oktober 2009 Sind die Gefahren der Schweinegrippe übertrieben? Es drängt sich derzeit der Eindruck auf, dass die meisten, die sich zu Wort melden, beim Dreisatz in der Schule gefehlt haben; selbst einfache Quotientenbildung scheint nicht jedermanns Sache zu sein. Artikel in der Zeitschrift „Nature“ beginnen mit der Feststellung, dass Grippeviren schon Millionen Menschen umgebracht haben. Die „Bild“-Zeitung widmet einem einzelnen ernsthaft Erkrankten einen ganzen Artikel und kündigt fünfunddreißigtausend Tote für den kommenden Winter an. In einer Pressemitteilung der Charité wird gefordert, dass entschlossen gehandelt werden müsse, ohne auch nur einen halben Satz auf die quantitative Einschätzung der Bedrohungslage zu verwenden. Und auch seriöse Zeitungen melden, dass es nun in Deutschland den ersten Toten durch die Schweinegrippe gegeben hat.
Dabei ist die quantitative Betrachtung ganz einfach. Alle Zahlen sind nur die eine Hälfte der Geschichte – nämlich der Zähler. Zu jedem Zähler gehört aber auch ein Nenner, damit es ein richtiger Bruch wird. Und nur Brüche sind geeignet, die Risikoverhältnisse richtig zu bewerten. Diese Feststellung ist banal. Umso erstaunlicher ist es, wie konsequent sie ignoriert wird.

Zwei von zweiundzwanzigtausend

Den Nenner zu fordern ist einfach, ihn zu bestimmen jedoch oft nicht. Der Nenner ist die Anzahl der Menschen, die einen bestimmten Nutzen haben können oder einem jeweiligen Risiko ausgesetzt sind. Die Auswahl des Nenners wird bestimmt durch die beabsichtigte Aussage. Also die Milliarden Menschen Weltbevölkerung, von denen Millionen durch die saisonale Influenza zu Tode gekommen sind. Oder die Tausende, die in Deutschland bisher mit der neuen Influenza infiziert wurden, von denen bisher zwei Betroffene nachweislich verstorben sind: zwei von 22.000 Infizierten.
Wer die vermeintliche Verharmlosung der Gefahr kritisiert, weist gern auf die vermutlich enorme Dunkelziffer der Infizierten hin. Das ist sicherlich richtig, es unterminiert jedoch die eigene Argumentation. Denn die Mortalität ginge in gleichem Maße, also ebenfalls enorm, nach unten, würde man alle Infizierten richtig erfassen. Zu dieser Dunkelziffer gibt es keine verlässlichen Schätzungen. Der milde Verlauf und die Unzuverlässigkeit der diagnostischen Verfahren lassen aber befürchten, dass die Unsicherheit sich über das Vielfache der 22.000 ausdehnt. Und demnach verringert sich der Nutzen einer Impfung, was die Mortalität betrifft, entsprechend auf ein Zehntel. All das beruht auf der starken Annahme, dass die Impfung hochwirksam ist – was bisher jedoch noch nicht empirisch gezeigt worden ist.

Aussagen, dass dieser Impfstoff „sicher“ sei, sind genau so wenig belegbar, auch wenn sie von der Pressestelle der Zulassungsbehörde kommen, wie die Gegenstimmen, dass der Impfstoff zu risikoreich sei, auch wenn diese von Ärzten und Fachgesellschaften kommen. Richtig ist, dass wir vor einem großen Wissensloch stehen.
Wenn der Boulevard zu rechnen beginnt
In den Vereinigten Staaten beobachtete man 1976 beim Guillain-Barre-Syndrom einen Todesfall auf achtzigtausend Impfungen. Um diesen Todesfall mit ausreichender Sicherheit zu erfassen, bedarf es 240.000 systematisch beobachteter Geimpfter. Oder mit Dreisatz: Selbst wenn man gegenwärtig zehntausend Geimpfte in Studien mit dem neuen Impfstoff hätte, wäre man um Größenordnungen davon entfernt, dieses Risiko erkennen zu können. Daraus jedoch fehlendes Risiko abzuleiten ist so, als würde man nachts im Wald die Taschenlampe ausschalten und behaupten, es gäbe keine Bäume.
Eine systematische Beobachtung ist unerlässlich, um seriöse Zahlen zu produzieren. Aber wer interessiert sich überhaupt für diese Zahlen? Am Mittwochabend verriet keiner der Gäste in der Talkshow „Hart aber fair“, von welcher Bedrohung er eigentlich ausgeht. Kein Wort fiel zu Todes- und Krankheitszahlen aus der abgeschlossenen Grippesaison auf der südlichen Halbkugel. Statt dessen gab es markige Impf- oder Nichtimpfempfehlungen. Einzig die Vertreterin von Transparency International wies wiederholt auf die notwendige Nutzen-Risiko-Betrachtung hin, erklärte eine Impfung aber zugleich für völlig nutzlos – voller Überzeugung natürlich. Die Sendung begann mit den auf dem Boulevard verbreiteten und angekündigten fünfunddreißigtausend Toten. Sie sind einfach interessanter als 169 / 22.000.000 = 0.000768 % = Todesfälle / Einwohnerzahl Australiens, das wäre nämlich eine belastbare Zahl der abgeschlossenen Grippesaison im dortigen Winter.
Schaden für das Impfen
Der weitgehende Verzicht auf sachliche Begründungen und Nutzen-Risiko-Abschätzungen ist die Kehrseite der ebensoweit gehenden Unfähigkeit, mit Nichtwissen kompetent und verantwortlich umzugehen. Zu verkünden, womit sich die Bundeskanzlerin impfen lassen wird, verringert dieses Nichtwissen um keinen Deut. Fatal – und im Widerspruch zu allen medizinischen Entscheidungsregeln – wäre es, wenn der Besitz des Impfstoffs die alleinige Begründung sein sollte, für die Impfung zu sein. Der Kenntnisstand von heute legt es nahe, dass sich jeder, der den Impfstoff besitzt, in einer komfortablen Situation befindet. Je nach weiterem Verlauf kann es dazu kommen, dass er diesen Impfstoff entsorgen muss. Das muss jedoch nicht unbedingt im eigene Körper geschehen.
Dem Impfen als einer der überhaupt wirksamsten, medizinischen Präventionsmaßnahmen der vergangenen einhundert Jahre wird in diesen Tagen ein immenser, nachhaltiger Schaden zugefügt. Wie groß der Vertrauensverlust in der Bevölkerung tatsächlich ist, wird man erst im Nachhinein sehen. Noch dramatischer ist die Vorstellung, wie sich dieser Ansehensverlust in einer echten, ernsthaften Krisensituation auswirkt.
Schon diese leichte Übungsrunde hat schon in ein Informationschaos geführt. Wenn die Strategie, ein zusammengezaubertes maximales Risiko im Sinne einer Minimax-Strategie zu kontrollieren, zur Handlungsmaxime dieser Gesellschaft werden sollte, dann müsste man allerdings auch heute alle Atomkraftwerke abschalten. In der Diskussion um Atomstrom wird nämlich gerade die gegenteilige Strategie verfolgt: Dort redet man alles klein, was bei H1N1 großgeredet wird.
Der Autor ist Direktor des Deutschen Cochrane Zentrums an der Universität Freiburg, das sich für die Verbesserung wissenschaftlicher Grundlagen bei Entscheidungen im Gesundheitssystem einsetzt.Text:

http://www.faz.net/s/Rub7B975B928C6E4CE997DC13F109CCB79A/Doc~ECF83C60270494D258A9DDA41F1A52462~ATpl~Ecommon~Scontent.html